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Schreckgespenst Stufenlehramt?!

Das Stufenlehramt soll kommen. Demnächst erwarten wir aus dem Wissenschaftsministerium die Novelle zur ersten Phase der Lehrer:innenbildung, dem Lehramtsstudium. In unserer Veranstaltung „Auf ein Wort“, eine regelmäßige Online-Gesprächsrunde für GEW-Mitglieder mit Vertreter:innen aus der Landesregierung und -politik, kündigte Wissenschaftsministerin Bettina Martin u. a. die Einführung des Stufenlehramtes an und stellte erste Eckpunkte vor. Darüber sprachen wir mit dem GEW-Vorsitzenden und Studienrat Nico Leschinski sowie mit Maik Walm, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Schulpädagogik und Bildungsforschung an der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock.

Im beschlossenen Forderungspapier aus dem Jahr 2019 für ein Personalentwicklungskonzept (PEK) legt die GEW MV alle notwendigen Schritte für eine grundlegende Reform des Lehramtsstudiums dar. U. a. wird darin die Einführung eines gemeinsamen, schulstufenbezogenen Lehramtes für „Regionale Schulen, Gesamtschulen und Gymnasien“ (5 bis 13) gefordert.

Red: Dies ist eine Abkehr von der bisher praktizierten schulartenbezogenen Ausbildung. Was spricht aus bildungswissenschaftlicher Sicht dafür?

Maik Walm: Die Frage der Lehramtsstruktur im Sekundarbereich wird im Regelfall so beantwortet, dass eine getrennte Bildung nach Lehrämtern, entsprechend den Schularten und deren Bildungszielen, notwendig sei. Diesem Weg folgen allerdings international und auch in Deutschland nicht alle Länder. In Berlin, Hamburg und Bremen gibt es bereits mehrjährige Erfahrungen. In Niedersachsen wird gerade ebenfalls über die Einführung eines gemeinsamen Sekundarstufenlehramtes diskutiert. Entgegen der schulartenspezifischen Bildungsziele folgen diese Bundesländer der Perspektive, dass die Anforderungen an Lehrer:innen in allen Schularten der Sekundarstufe I und II so ähnlich sind, dass ein gemeinsames Lehramt auch bei unterschiedlichen Schularten leistungsfähiger ist. Mit Blick auf unsere eigene Forschung zur Situation im Land können wir diese Einschätzung bestätigen. Eine repräsentative Studie zur Situation an den  Regional- und Gesamtschulen sowie den Gymnasien aus dem Jahr 2017 zeigt, dass sich die Anforderungen an Lehrer:innen, d. h. die pädagogischen wie sonderpädagogischen Anforderungen qualitativ nur in Bezug auf den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung unterscheiden. Sicher unterscheidet sich dabei quantitativ deren Vorkommen an den Schularten. Aus der Perspektive der Lehrer:innenbildung stellt sich allerdings insbesondere die Frage, auf welche inhaltlichen Anforderungen Lehrpersonen vorbereitet werden müssen. Das gymnasiale Lehramt in M-V hat bundesweit den höchsten fachwissenschaftlichen Anteil. Dafür können wichtige Kompetenzen in den Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften, die u. a. den Umgang mit heterogenen Lernvoraussetzungen oder digitalen Anforderungen verbessern würden, weniger entwickelt werden, obwohl sie – wie Forschungen zur Leistungsfähigkeit von Schulen regelmäßig zeigen – gebraucht werden. Darüber hinaus gibt es schon heute große

Schnittmengen im Studium für die verschiedenen Lehrämter, d. h., es werden schon heute in der Mehrheit der Fälle gemeinsame Veranstaltungen besucht.

Red: Welche inhaltlichen Veränderungen würden damit im Lehramtsstudium einhergehen?

Maik Walm: Wie ein Sekundarstufenlehramt konkret ausgestaltet wird, ist bundesweit unterschiedlich und abhängig von landespolitischen Entscheidungen. Im Vergleich zur aktuellen Situation in M-V werden Leistungspunkte/Studienanteile stärker in Richtung Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften verschoben, da diese häufig den Unterschied zu den fachwissenschaftlichen Studiengängen, zum Beruf als Lehrer:in, ausmachen. Auch Wahlbereiche, in denen sich Studierende nach Interesse und Bedarf in allen Bereichen des Studiums noch einmal vertiefen können oder sich aber Themen wie Inklusion, Digitalisierung und anderes erschließen, werden genutzt.  

Red: Gibt es aufseiten der Hochschulen Bedenken zu diesen geplanten Änderungen?

M. E. kommt man allerdings nicht an einer nüchternen Analyse der Situation vorbei: Die Schulen haben Probleme mit zu wenig und nicht passend qualifiziertem Personal, und die Hochschulen müssen sich in beiden Bereichen bewegen. Das Land braucht starke Hochschulen, aus denen wissenschaftlich und berufsfeldbezogen sehr gut qualifizierte Lehrer:innen kommen!

 

Maik Walm: Die Hochschulen haben ein etabliertes Studienmodell und dafür eingerichtete Stellen und Arbeitsprozesse. Eine Veränderung von Inhalten, Strukturen und Ressourcen sorgt deshalb natürlich für Diskussionen. Tatsächlich ist die Lehrer:innenbildung bundesweit sehr unterschiedlich strukturiert, d. h. bzgl. der Verteilung von Leistungspunkten in den Studienbereichen. Auch die Forschung bietet keine gesicherte Grundlage für die konkrete Verteilung von Leistungspunkten, genauso wenig wie Beschlüsse von Fachvertretungen. Insofern wird um gemeinsame Positionen gerungen, wie man auch öffentlich wahrnehmen kann. M. E. kommt man allerdings nicht an einer nüchternen Analyse der Situation vorbei: Die Schulen haben Probleme mit zu wenig und nicht passend qualifiziertem Personal, und die Hochschulen müssen sich in beiden Bereichen bewegen. Das Land braucht starke Hochschulen, aus denen wissenschaftlich und berufsfeldbezogen sehr gut qualifizierte Lehrer:innen kommen!

Red: Wissenschaftsministerin Bettina Martin hat durchblicken lassen, dass das stufenbezogene Lehramt für Sek I und II gemeinsam mit der anstehenden Novelle des Lehrerbildungsgesetzes kommen soll. Entspricht die geplante Ausgestaltung den GEW-Forderungen?

Im Stufenlehramt wird sichergestellt, dass die Studierenden die notwendigen Voraussetzungen für die Anerkennung in beiden Lehrämtern haben. Einmal studiert,  zwei Abschlüsse erworben – das ist ein guter Deal.

 

Nico Leschinski: Im Wesentlichen ja! Im Rahmen des Personalentwicklungskonzeptes hat die GEW in der Vergangenheit klar Position bezogen. Wir halten es nicht für sinnvoll, nach Schularten getrennt zu studieren, sondern nach Jahrgangsstufen. In der Praxis sitzen ja bereits Studierende des Regional- und Gymnasiallehramtes in identischen universitären Veranstaltungen. Lediglich im Umfang und der Schwerpunktsetzung gibt es bisher Unterschiede. So muss in M-V beispielsweise für das Gymnasiallehramt ein extrem hoher fachwissenschaftlicher Anteil absolviert werden, der weit über die Anforderungen der KMK hinausgeht. Das geht zulasten von Pädagogik und Didaktik. Im Stufenlehramt wird sichergestellt, dass die Studierenden die notwendigen Voraussetzungen für die Anerkennung in beiden Lehrämtern haben. Einmal studiert,  zwei Abschlüsse erworben – das ist ein guter Deal.

Red: Alle Welt spricht vom Lehrkräftemangel. Ein stufenbezogenes Lehramt scheint auch darauf eine gute Antwort  geben zu können. Wie siehst du das?

Nico Leschinski: Das betrachte ich als willkommenen Seiteneffekt, möchte aber den Fachkräftemangel damit nicht vermischen. Gleichwohl ist es zutreffend, dass, wer in einem Stufenlehramt ausgebildet worden ist, natürlich auch flexibler einsetzbar ist. Wir erleben bereits, dass insbesondere Kolleg:innen aus den Gymnasien in die Regionalschulen oder Gesamtschulen abgeordnet beziehungsweise versetzt werden. Für zukünftige Absolvent:innen ändert sich durch das neue Lehramt nichts, sie sind aber aufgrund des höheren pädagogisch-didaktischen Fachanteils darauf besser vorbereitet.

Red: Bislang gab es die sogenannte Doppelqualifikation für das Lehramt für Gymnasien und Regionale Schulen in M-V. Diese wurde über ein verlängertes Referendariat erlangt. Letztmalig konnte dieser Ausbildungsweg zum Schuljahresbeginn 23/24 begonnen werden. Wie bewertest du die Einstellung dieser Möglichkeit (zumal Absolvent:innen eines möglichen Stufenlehramtes erst in einer Dekade zu erwarten sind)?

Nico Leschinski: In unserer Stellungnahme zum neuen Lehrerbildungsgesetz haben wir das scharf kritisiert. Wir sehen in der Praxis, dass zahlreiche Gymnasiallehr-
kräfte an anderen Schulformen tätig sind. Wir hören oft, dass Referendar:innen mitgeteilt wird, dass man ihnen zwar eine Stelle im Bundesland anbieten kann, nicht aber in ihrem studierten Lehramt. Die Doppelqualifikation war die einzige Möglichkeit, strukturiert auf die Herausforderungen eines anderen Lehramtes vorbereitet zu werden. Und auch diejenigen, die trotz der Doppelqualifikation in ihrem originären Lehramt eingesetzt werden, profitieren davon. Maik Walm ist in seinen Ausführungen schon auf die Vorteile einer Ausbildung, die auch auf die Heterogenität der Schüler:innen abzielt, eingegangen. Natürlich hat dies einen Preis, nämlich ein deutlich längeres Referendariat. In Zeiten des Fachkräftemangels kann ich es verstehen, wenn man die zweite Phase der Lehramtsausbildung beschleunigen möchte, um das Personal möglichst schnell einsetzen zu können. Wir als GEW setzen uns dagegen für einen fließenden Einstieg in den Lehrberuf ein. Nach dem Referendariat gleich die vollen Stunden zu arbeiten, wo es nur begrenzt Routine und Erfahrung gibt, ist sehr herausfordernd und nicht selten der Moment, wo Kolleg:innen an ihre Grenzen gelangen. Das führt leider auch dazu , dass einige das Handtuch werfen. Doch selbst wenn es nicht gleich zum Schlimmsten kommt, glauben wir, dass es der Unterrichtsqualität zuträglich ist, wenn man das Deputat erst stufenweise erhöht und – wie es bereits die Regel ist – zum Abschluss des Berufslebens wieder reduziert wird. Insofern plädieren wir folgerichtig eher für eine Ausweitung des Zeitraumes des Referendariats bzw. Berufseinstiegs, allerdings dann zu anderen finanziellen Bedingungen.

Red: Wie erklärst du dir die Abwehrreaktion zum Stufenlehramt in Teilen der Politik, wie sie schon in der Berichterstattung wahrzunehmen war?

Nico Leschinski: Der Vorsitzende des Philologenverbandes schrieb Ende März in einer Mitteilung „Die Anerkennung dieses Studiums in anderen Bundesländern für den Einsatz am Gymnasium sei nach einer radikalen Kürzung der fachlichen Inhalte nicht gesichert.“ Doch auch andere Bundesländer haben das Stufenlehramt eingeführt, und natürlich sind deren Abschlüsse gemäß KMK anerkannt. Wie es zu so einer Behauptung kommen kann, weiß ich nicht. Sie ist in jedem Falle falsch, hat aber viel Wirbel verursacht. Vielmehr ist es so, dass Student:innen in M-V zukünftig gleich zwei Lehrämter erwerben, also sogar einen Wettbewerbsvorteil haben werden. Der im Deutschen Beamtenbund (dbb) organisierte Philologenverband leistete sich aber eine weitere Entgleisung: „Mit der Zusammenlegung eines kranken und eines gesunden Lehramts schaffe ich kein starkes Lehramt“, so der Vorsitzende. Ich frage mich, was die Lehrkräfte in den Regionalschulen bei solchen Äußerungen denken oder auch die Studierenden in diesem Lehramt. Teilweise ist die vorgebrachte Kritik einfach nur reflexhaft und wenig inhaltlich fundiert. Über Parteigrenzen hinweg wird – völlig zu Recht – kritisiert, dass die fachwissenschaftlichen Anforderungen an die Ausbildung insbesondere im Gymnasiallehramt zu hoch sind. Diese Reform wird genau diesen Anteil auf das von der KMK geforderte Maß anpassen. Ministerin Bettina Martin hat uns gegenüber angekündigt, dass es im Zuge der Reform mehr auf Lehrämter zugeschnittene Lehrveranstaltungen geben wird. Auch das ist immer wieder – nicht nur von uns – gefordert worden. Und man merkt ja, dass die Hauptstoßrichtung der Kritik vor allem die Befürchtung ist, dass das Gymnasium abgeschafft wird. Ein solches Ansinnen findet sich weder im Koalitionsvertrag noch gibt es irgendeine Ankündigung seitens der Regierung diesbezüglich. Gleichwohl wird es interessant werden, zu beobachten, wie sich insbesondere die CDU zukünftig verhält, sollten die Schüler:innenzahlen sich so entwickeln wie prognostiziert. Denn es wird Regionen in unserem Bundesland geben, wo es in der Perspektive schwierig werden wird, die aktuelle Schulstruktur flächendeckend aufrechtzuerhalten. Wie groß soll denn der Einzugsbereich eines Gymnasiums oder einer Regionalschule werden, wenn die Anzahl der Landeskinder regional teils drastisch abnimmt? Ich prophezeie, dass wird zumindest in diesen Landesteilen darüber werden reden müssen, wie wir alle Schulabschlüsse wohnraumnah anbieten können. Und vielleicht wird man dann auch sehen, dass Konzepte wie eine integrative Gesamtschule nicht des Teufels sind.


Weiterführende Informationen zum Thema:

Studie „Lehrer:innenbildung in Deutschland im Jahr 2024 – Status Quo und Entwicklungen der letzten Dekade“ von Maik Walm, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Schulpädagogik und Bildungsforschung , Universität Rostock, Philosophische Fakultät, und Prof. Dr. Doris Wittek, Professorin für Lehrerprofessionalität und Lehrerbildungsforschung, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Philosophische Fakultät III – Erziehungswissenschaften

+++ Dieses Interview erschien zuerst in der E&W plus – Das Bildungsmagazin für MV – in der Ausgabe Juni 2024 +++

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