Perspektiven: Göttinger Deklaration zum kindorientierten Ganztag
Vom 6. bis 7. September 2024 nahmen Alexandra Mühe, Referentin für Schule und Berufliche Bildung, und Silke Gajek, Referentin Jugendhilfe und Sozialarbeit, an der bundesweiten Veranstaltung "Qualität im Ganztag – Zukunft (mit)gestalten“ in Göttingen teil. Dort wurde gemeinsam die „Göttinger Deklaration zum Ganztag“ verabschiedet.
Auch auf der GEW-Bundesebene ist Ganztag sehr präsent. 70 engagierte GEW-Mitglieder und Hauptamtliche erhielten neue Impulse und diskutierten diese. Unter anderem wurde die teilweise als hoch eingeschätzte Arbeitsbelastung, der demografische Wandel aber auch der zunehmenden Wunsch nach Work-Life-Balance im Bereich der Kindertagesstätten thematisiert. Verwiesen wurde hierbei auf die unlängst erschiene Studie „Flucht in die Teilzeit" der Hans-Böckler-Stiftung. In MV ist die Teilzeit in der Bildung nicht immer freiwillig. Es spielen auch politische Erwägungen oder Notwendigkeiten, bspw. von freien Trägern eine Rolle für die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse. Gerade pädagogische Fachkräfte arbeiten mit so genannten flexiblen Verträgen bspw. neben dem Hort auch in der Krippe, im Kindergarten oder Jugendclub - je nach regionaler Gegebenheit, finanzieller Ausstattung der Kommune und Trägerstruktur. In diesem Zusammenhang muss auch der aktuelle Geburtenrückgang in die Überlegungen und Perspektiven einbezogen werden. Und auch die hohen Krankenstände bei Erzieher:innen (in MV 34,7 Tage in 2023) verschärfen die Arbeitsbedingungen nochmals. Der gern zitierte Satz des Fachkräftemangels scheint sich aktuell ins Gegenteil zu verkehren. Jetzt besteht mit Rechtsanspruch auf einen Ganztag zusätzlich die Möglichkeit und auch unsere Forderung als GEW, dieses Momentum zu nutzen und endlich die Qualität zu verbessern: sprich den Personalschlüssel und die Fachkraft-Kind-Relation. Ein Schlüssel von 1:22 im Hort ist nicht länger hinnehmbar. Die Göttinger Deklaration unterstreicht dies nochmal in Bezug auf Chancengerechtigkeit, Inklusion und Teilhabe: „Die Entwicklung ganzheitlicher pädagogischer Konzepte für eine umfassende ganztägige Bildung, Erziehung und Betreuung orientiert an den Bedürfnissen und Interessen der Kinder, muss alle Professionen miteinander verbinden. Die GEW sieht daher die gebundene Ganztagsschule als die effektivste Form, um allen Kindern ein pädagogisch abgestimmtes, anregendes sowie entspanntes Lernen und Leben zu ermöglichen.“ Dieser Intention schließen wir uns vollumfänglich an.
Gemeinsame Erklärung der Teilnehmer*innen der zweiten bundesweiten Tagung der GEW „Keinen Tag ohne – Qualität im Ganztag“ in Göttingen am 7. September 2024
GÖTTINGER DEKLARATION ZUM GANZTAG
Wir bekennen uns ausdrücklich zum Rechtsanspruch auf Ganztagsförderung ab dem 1. August 2026. Das im September 2021 verabschiedete Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) ist ein bedeutendes bildungs-, familien- und sozialpolitisches Vorhaben von Bund, Ländern und Kommunen. Es soll das Recht auf qualitativ hochwertige Bildung, Erziehung und Betreuung sicherstellen und nicht nur den Anspruch aller Grundschulkinder auf einen Betreuungsplatz garantieren. Alle Kinder haben ein Recht auf exzellente Bildung und umfassende Teilhabe, um die eigenen Potenziale entwickeln und sich zu einer selbstbestimmten und emanzipierten Persönlichkeit entwickeln zu können.
Wir, als pädagogische Fachkräfte, Lehrkräfte und sozialpädagogisches Personal, verstehen uns als Lern- und Lebensbegleiter*innen der Kinder. Die Grundschulzeit stellt eine der entscheidenden Phasen der Kindheit dar, weshalb wir die Politik zu entschiedenem Handeln im Sinne eines kindegerechten Ganztages auffordern. Die gesetzliche Verankerung des GaFöG im Achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII) sowie der UN-Kinderrechtskonvention (UN KRK) stellen die Gesellschaft vor die Aufgabe, den allgemeinen Anspruch der Kinder auf Fürsorge, Autonomie und Entfaltung zu gewährleisten und allen Kindern das Recht auf gute Bildung, Erziehung und Betreuung zu ermöglichen. Das Wohl des Kindes muss dabei stets im Zentrum stehen.
Ein qualitativ hochwertiger Ganztag fördert Inklusion und ermöglicht allen Kindern, unabhängig von ihrem sozialen, ökonomischen oder kulturellen Hintergrund, gleiche Chancen auf Bildung, Entwicklung und Teilhabe. Daher müssen die Ganztagsangebote auf die vielfältigen Bedürfnisse aller Kinder eingehen, zur sozialen Kohäsion beitragen und die Eltern in ihre Arbeit einbeziehen. Der Ganztag bietet zudem einen wesentlichen Raum für die Demokratiebildung junger Menschen. Sie aktiv in die Gestaltung ihres Alltags einzubeziehen, ihnen Verantwortung zu übertragen und Strukturen der Partizipation auf allen Ebenen zu ermöglichen, erfordert offene und flexible Strukturen.
Wir fordern die Entwicklung eines gemeinsamen, bundesweiten Qualitätsverständnisses, das als Rahmen für die verbindliche Verankerung in allen Landesschulgesetzen gilt. Ein rein additiver Ansatz, ohne echte Integration der Strukturen, beraubt sowohl die Kinder als auch die Lehrkräfte und sozialpädagogischen Fachkräfte vielfältiger Möglichkeiten. Die Entwicklung ganzheitlicher pädagogischer Konzepte für eine umfassende ganztägige Bildung, Erziehung und Betreuung orientiert an den Bedürfnissen und Interessen der Kinder, muss alle Professionen miteinander verbinden. Die GEW sieht daher die gebundene Ganztagsschule als die effektivste Form, um allen Kindern ein pädagogisch abgestimmtes, anregendes sowie entspanntes Lernen und Leben zu ermöglichen.
Eine enge und systematische Zusammenarbeit zwischen Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ist entscheidend für die Qualität der Ganztagsangebote. Diese Kooperation muss auf lokaler Ebene durch gemeinsame Bildungsziele, klare Absprachen und professionsübergreifende Fortbildungen strukturiert und gestärkt werden. Auch die Ausbildung und Qualifizierung von Lehrkräften und sozialpädagogischen Fachkräften muss auf die Anforderungen des gemeinsamen ganztägigen Lernens und der multiprofessionellen Zusammenarbeit vorbereiten. Sozialpädagogische Fachkräfte benötigen attraktive Arbeitsverhältnisse, die tariflich abgesichert sind und Altersarmut verhindern.
Als Expert*innen des pädagogischen Alltags fordern wir die politisch Verantwortlichen auf, die notwendigen Standards in einem transparenten Verfahren unter Einbeziehung aller relevanten Akteur*innen zu erarbeiten. Dabei müssen Aspekte wie Personalschlüssel, Inhalte, Räumlichkeiten und Gesundheitsförderung ebenso priorisiert werden wie Investitionen in bauliche Maßnahmen. Die Sicherstellung einer langfristigen und bedarfsorientierten Finanzierung ist unabdingbar, um eine dauerhafte Qualität der Ganztagsangebote zu
gewährleisten.
Mit dieser Deklaration rufen wir die politisch Verantwortlichen dazu auf, entschlossen für die Rechte und Bedürfnisse der Kinder zu handeln, an der Qualität darf nicht gespart werden.
Ihr merkt: Uns ist dieses Thema sehr wichtig, geht es doch darum, neben den regionalen Unterschieden und anstehenden Herausforderungen, den vielen Ideen der verschiedensten am Ganztag Beteiligten eigene, für unser Bundesland relevante, Positionen zu erarbeiten - für die Kinder, aber auch für euch. Deshalb möchten wir euch ermutigen und auch auffordern, an diesem Prozess aktiv mitzuwirken. Nochmals zur Erinnerung: Ab August 2026 tritt das Ganztagsförderungsgesetz, zunächst für die erste Klasse in Kraft. Gleichzeitig hat auch das SGB VIII den § 24 Absatz 4 in Bezug auf den Rechtsanspruch neu gefasst. Daraus folgt, dass wir jetzt noch die Möglichkeit haben den Prozess für einen kindorientierten Ganztag in unserem Bundesland mitzugestalten. Wir sitzen als GEW MV am Runden Tisch Ganztag und arbeiten aktiv in den drei Unterarbeitsgruppen mit. Als Mitmachgewerkschaft benötigen wir dafür eure Expertise, eure Vorschläge und Anregungen. In einem ersten Schritt haben wir uns deshalb schon vor der Sommerpause online austauscht. Diesen Prozess wollen wir im Herbst intensivieren. Am 30.09., 19:00 Uhr treffen wir uns online wieder. Ihr seid herzlich eingeladen. Die Göttinger Deklaration ist ein guter Anlass, Positionen und Forderungen für die Kooperationen im Ganztag zu entwickeln. Mach mit!
Silke Gajek, Referentin Jugendhilfe, Sozialarbeit und Organisationspolitik (dieser Artikel ist zuerst erschienen in der E&W plus - Das Bildungsmagazin für MV)
19059 Schwerin
